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Die Wahl, die keine ist

 

„Wer kann Kanzler“ ist die im Wahlkampf 2021 nicht nur häufig begangene Misshandlung von Sprache – auch durch Journalisten – sondern auch Beleg, dass Menschen verschiedener Gruppenzugehörigkeit mit denselben nur drei Worten in entgegengesetzte Richtungen reden und verstehen können. Damit zeigt die Redewendung auch, wie weit sich politische Sichtweisen von den Interessen und Bedürfnissen wahrscheinlich sogar der Mehrheit der Bürger entfernt haben.

Merkel hat offenbar etwas ganz anderes im Blick wenn sie sagt, Laschet habe NRW „sehr erfolgreich“ geführt und könne deshalb auch „die Bundesrepublik Deutschland als Kanzler führen“*1, als die den Umfragen nach zahlreichen Bürger (laut statista.de 45 Prozent), die von den drei Kandidierenden niemand für das Kanzleramt wählen würden.

Tatsächlich muss man unterscheiden, ob politische Verhaltensweisen gemeint sind oder ob es um Sachinhalte geht.

Man kann Merkel nicht unterstellen, sie würde Fakten verbiegen, wenn sie so redet. Das gilt jedoch nur, solange sie sich nur auf die Verhaltensweisen bezieht, die sich in der Politik verbreitet etabliert haben. Viele Wörter, kaum Sachinhalt – und wenn Inhalt nicht vermeidbar ist, dann so formuliert, dass es bei jedweder Art von Hinterfragung oder später offenbar werdender Abweichung vom Gesagten Auslegungsmöglichkeiten als „Missverständnisse“ gibt. Die abgebrühteren Politiker kümmern sich nicht einmal mehr darum und machen was ihnen gerade in den Sinn kommt, um ihre Klientelpolitik voranzubringen. Vermutlich denken gerade viele wie ich an das Landwirtschaftsministerium und das Verkehrsministerium.

Tatsächlich ist das Verkehrsministerium ein gutes Beispiel, zu verdeutlichen worin der fundamentale Unterschied zwischen den Perspektiven von Politikern und Bürgern liegt. Minister Scheuer pfeift auf das sachliche Gespräch mit Bürgern, pfeift auf sachinhaltlich Gebotenes. Alle gemeinnützigen klima-, natur- und umweltrelevanten zukunftsfähigen Sachverhalte werden weggewischt wenn er Entscheidungen trifft. So ist er im öffentlichen Nah- und Fernverkehr vor allem Bremser, während in seinem Auftrag Kilometer um Kilometer neue Autobahnen gebaut werden. Sogar ignorierend, ob der mitunter zehn Jahre alte Planungsansatz inhaltlich überhaupt noch von Bedeutung ist. Dafür werden sogar zuerst protestierende Menschen und dann Schneisen durch alte Wälder geschlagen.
Mit solchem Vorgehen kennt sich auch der Kandidat der „christlichen“ Parteien aus – Menschen aus besetztem Wald prügeln, sogar mit Todesfolge, wenn es darum geht, die sachinhaltlich längst untragbar gewordene Kohleverstromung doch noch zu erhalten und sogar Dörfer und damit Heimat zerstörend voranzutreiben.

Die dort Vertriebenen und die Demonstrierenden sind die aktive Spitze einer sehr großen Mehrheit der Bevölkerung. Menschen, die sich – das ist die andere Perspektive – sachlich begründet um unersetzliche Lebensgrundlagen wie saubere Luft, sauberes Wasser, unschädliche Lebensmittel und die Zukunft ihrer Kinder sorgen.

So stehen von Politikern bediente Wirtschaftsinteressen den grundlegenden Lebensinteressen der Bürger gegenüber.

Eine weitere Äußerung aus der ausgehenden Kanzlerschaft Merkels bringt diesen Konflikt und die mangelnde Fähigkeit, mit Bürgerinteressen umzugehen, auf den Punkt, als sie im November 2016 sagte, den Menschen in Deutschland sei es noch nie so gut gegangen wie im Augenblick.*2 Sie nannte in der Rede zum Haushaltsgesetz 2017 in dem Zusammenhang zwar auch die vielen Menschen in Not und die von Hartz IV abhängigen Menschen. Im Kontext der Rede erscheinen die Menschen jedoch ganz klar den Wirtschaftszahlen untergeordnet. In der Gläubigkeit: erst die Wirtschaft dann die Menschen. Eine sinnentleert kapitalistische Haltung, die sich durch ihre Politik zieht.*3

Die Allgemeingültigkeit, die sie – ziemlich sicher bewusst – in die Formulierung gelegt hat, ist nicht gegeben. Die Zahl der Menschen, denen es nicht gut geht, ist seit der Jahrtausendwende gestiegen, sowohl unter, nur dem Parteinamen nach, sozialer als auch unter vermeintlich christlicher Politik. Das gilt in wirtschaftlicher Hinsicht und ebenso wenn man Glücklichsein oder Chancengleichheit als Maß nimmt.

Es ist ein Trugschluss, mit Bezug auf das ganze Land von Entwicklung und Wohlergehen zu reden, wenn es Konzernen und Unternehmen „gut“ geht, sie also möglichst profitabel sind, gleichzeitig aber die Lebenschancen der Menschen genau dadurch vernachlässigt werden. Die großen volkswirtschaftlichen Zahlen sagen nichts über die tatsächliche Verteilung der Lebenschancen der Menschen aus. In der Hinsicht gibt es eine sehr große Zahl von Menschen, denen es noch nie so schlecht gegangen ist.
Die Frage ob für Menschen oder für Profit gewirtschaftet wird, ist bei politischen Entscheidungsträgern längst keine mehr. In der ausgeprägten Hörigkeit gegenüber Kapitalismus und konform manipuliertem Markt liegt die Antwort: es geht um sinnentleerte Profitmehrung für wenige Menschen.

Politiker, die um wachsende profitable Wirtschaft kreisen und dabei Ausgewogenheit in der – sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen – Teilhabe für alle hintenanstellen oder vernachlässigen oder gar ganz aus dem Blick verlieren, betreiben eine Politik der Unfreiheit.
Das geht bis hin zu angekündigten Verfassungsbrüchen. Z.B. haben die Parteien mit Kanzlerkandidaten, ebenso wie nahezu alle anderen antretenden Parteien, Programme, in denen zur Klimapolitik zwar vielleicht das Abkommen von Paris erwähnt ist, aber die sachlichen Inhalte zur Einhaltung der dort vereinbarten Grenzwerte offenkundig unzureichend sind. Damit entsprechen sie nicht den vom Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 2021 formulierten Anforderungen.

Mit ihren Gewichtungen von Wirtschaft versus Menschen halte ich alle drei Kandidaten für die zukünftige Kanzlerschaft für mindestens fragwürdig. Nein, sie sind sogar ungeeignet, sie sind unqualifiziert. Bereits zu oft sind sie der Herausgehobenheit ihrer Positionen nicht gerecht geworden. Sie befinden sich zwar in verantwortlichen Positionen für die Menschen des Landes insgesamt – und im Menschenrechtssinne sogar darüber hinaus – haben diese Verantwortung jedoch sachinhaltlich nicht erfüllt. Weil sie eine Perspektive haben, die von den Interessen und Bedürfnissen sehr vieler Menschen entfremdet ist.

 

*1 https://www.sueddeutsche.de/politik/wahlkampf-merkel-laschet-kann-bundesrepublik-als-kanzler-fuehren-1.5402009

*2 Dr. Angela Merkel: Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie im Augenblick. Rede zum Haushaltsgesetz 2017, am 23.11.2016
https://www.cducsu.de/themen/dr-angela-merkel-den-menschen-deutschland-ging-es-noch-nie-so-gut-wie-im-augenblick#

*3 vgl. z.B. „Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des „Tages des deutschen Familienunternehmens“ der Stiftung Familienunternehmen“ am 15. Juni 2012 in Berlin;
https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-anlaesslich-des-tages-des-deutschen-familienunternehmens-der-stiftung-familienunternehmen-479222

 

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